Schüchternheit annehmen statt überwinden

Mit dir ist nichts falsch

Ich bin davon überzeugt, dass nichts falsch mit dir ist, wenn du schüchtern bist.

Selbst wenn deine Zurückhaltung nicht oder nur teilweise deiner Natur entspricht, sondern du sie im Laufe des Lebens entwickelt hast. Denn auch dann gibt es immer einen guten Grund dafür.

Zum Beispiel, dass wir in unserer Kultur extravertierte Menschen als Idealbild ansehen, Introvertierte und Schüchterne dagegen eher als schwach und unsozial gelten. Als leise und sensible Menschen nehmen wir wahr (vielleicht auf einer ganz subtilen Ebene), dass wir für diese Eigenschaften verurteilt werden. Irgendwann verinnerlichen wir diese Verurteilung selbst und beginnen uns Druck zu machen, anders sein zu müssen. Wir glauben, wir müssten uns anpassen. Mehr Menschen treffen. Mehr sprechen. Lauter sein. Die Botschaft von außen und innen an uns selbst lautet: Du bist nicht okay, wie du bist.

Wie sollen wir unter diesen Umständen sicher darin werden, Freund*innen abzusagen, weil wir Zeit für uns alleine brauchen? Oder uns auf einer Party ganz selbstverständlich den gesamten Abend nur mit einer Person unterhalten? Oder uns damit wohlfühlen, schweigend in einer Runde beim Essen zu sitzen, weil gerade nichts von uns gesagt werden möchte (oder wir einfach gerne anderen zuhören)?

Warum klassische Tipps gegen Schüchternheit oft nicht helfen

In diesem Artikel wirst du keine „10 Tipps gegen Schüchternheit“ finden. Denn die gängigen Strategien haben bei mir nicht nachhaltig gewirkt. Vielleicht hast du auch schon viel ausprobiert und gemerkt, dass es dir nicht wirklich geholfen hat?

Für mich hat es höchstens kurzfristig funktioniert, mich immer wieder Situationen auszusetzen, in denen ich sozialen Kontakt „üben“ kann. Das waren nämlich meist Situationen, auf die ich eigentlich keine Lust hatte. Die sich nicht stimmig in meinem Körper angefühlt haben. In die ich mich nur hineingezwungen habe, um dazuzugehören.

Ein anderer Weg: Annehmen statt Überwinden

Was wäre also, wenn es nicht darum geht, die Schüchternheit zu überwinden? Sondern sie anzunehmen und so selbstbewusst wie möglich mit ihr durchs Leben zu gehen? Vielleicht mag sie sich dann verändern, vielleicht auch nicht. Vielleicht gehört sie (oder ein Teil davon) einfach zu dir.

Und damit will ich nicht sagen, dass du dich mit deiner Schüchternheit abfinden sollst, wenn du darunter leidest. Dass du einfach so bleiben sollst, wie du bist. Ich weiß, wie verzweifelt es sich anfühlen kann, wenn Scham uns daran hindert, unser Leben nach unseren Wünschen zu gestalten. Wenn wir Dinge vermeiden, die uns eigentlich wichtig sind. Aber es macht mindestens genauso verzweifelt, wenn wir uns selbst ablehnen – wenn wir uns anders haben wollen, als wir (in diesem Moment) sind.

Deshalb glaube ich, es ist an der Zeit, unsere negativen Bewertungen zu hinterfragen und uns ernst zu nehmen. Zeigt uns unsere Zurückhaltung in einer bestimmten Situation womöglich an, dass sie einfach nicht passend für uns ist? Ich bin mir sicher, auch du kennst Situationen mit anderen Menschen, in denen du dich wohlfühlst und nicht schüchtern bist. Situationen, in denen du aus dir heraus motiviert bist, dich zu zeigen.

Wir dürfen auf eine neue Art mutig sein. Nicht mutig im Sinne von: Small Talk lernen und mehr Menschen ansprechen. Sondern mutig darin, uns Mitgefühl zu schenken, wenn wir uns schämen oder Angst haben, statt uns dafür zu verurteilen. Schritt für Schritt authentischere Entscheidungen zu treffen, für unsere Bedürfnisse einzustehen und Grenzen zu setzen.

Fragen zum Erforschen

Vielleicht magst du in einem entspannten Moment folgende Fragen in Ruhe für dich bewegen. Diese Schritte können dich dabei unterstützen, stimmige Entscheidungen zu treffen und in sozialen Situationen gut für dich zu sorgen.

Körperwahrnehmung erforschen

Was nimmst du in deinem Körper wahr, wenn du an eine soziale Situation denkst, die in nächster Zeit bei dir im Kalender steht? Vielleicht kannst du eine Weite spüren, ein Zusammenziehen, einen Druck, ein Kribbeln, eine angenehme oder unangenehme Aufregung? Fühlt es sich hart oder weich an? Wie ist deine Atmung?

Stimmigkeit prüfen

Solltest du kein stimmiges Gefühl in Bezug auf die Situation haben, lade ich dich ein, genau hinzuschauen und ehrlich mit dir zu sein: Ist es ein Termin, der deinen Werten entspricht oder dich deinen Zielen einen Schritt näherbringt? Ist ein Treffen mit Menschen geplant, die dir guttun? Dann könntest du dich, wenn du möchtest, bewusst mit deinen Werten oder Zielen bzw. den Menschen verbinden und erneut in die Situation hineinspüren.

Handlungsmöglichkeiten erkunden

Wenn du das für dich geklärt und immer noch ein unstimmiges Gefühl hast, kannst du dich fragen: Kann ich den Termin absagen oder muss ich ihn wahrnehmen?

Entscheidung treffen

Falls du die Wahl hast: Wie möchtest du dich entscheiden? Hier darfst du sanft mit dir sein, egal, welche Entscheidung du triffst.

Bedürfnisse erfüllen

Falls du den Termin wahrnehmen musst oder möchtest, kannst du dir die Frage stellen: Wenn alles möglich wäre – was bräuchtest du, damit es sich für dich stimmiger anfühlt? Oder damit du es vielleicht ein bisschen leichter hast? Erforsche das gerne neugierig und kreativ und versuche das umzusetzen, was geht (und sei es nur in deiner Vorstellung – auch das wirkt).

Je liebevoller und mitfühlender du mit deinem ruhigen Wesen umgehst, desto besser kannst du dich einbringen: mit deinen Gedanken, Gefühlen, Empfindungen, Worten, Werten und Ideen. Egal, wie seltsam oder unperfekt sie dir erscheinen mögen.

Und das ist wichtig. Denn ich bin davon überzeugt, dass wir als leise Menschen einen wertvollen Beitrag in der Welt leisten können, dürfen und sollten. Wir werden gebraucht!